30 Jahre nach der Mauer: What we learned

In den letzten Wochen erkundeten wir in unserem Projekt “30 Jahre nach der Mauer” in insgesamt neun Gesprächen das komplexe Verhältnis zwischen der DDR und den USA und wie sich dieses Verhältnis heute auf die neuen Bundesländer auswirkt. 

Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kalten Krieges, dem geteilten Deutschland und der Vereinigung zur heutigen Bundesrepublik, haben wir uns mit ZeitzeugenInnen unterhalten. Sie gehören unterschiedlichen Generationen an. Was alle verbindet, ist in der DDR gelebt zu haben. Ihre Erzählungen gaben uns weitere Perspektiven auf die Themen, die wir in den letzten Wochen besprochen haben. Generationsübergreifend und interregional konnten wir so das, was wir in den 9 Gesprächen mit ExpertInnen und AutorInnen gelernt haben, zu einem konkreteren Bild vervollständigen. 

Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen

Ralf G. wurde 1943 in Trutnov, einer Stadt im Nordosten des heutigen Tschechiens, geboren und im Alter von fünf Jahren nach Braunsdorf im Thüringer Wald umgesiedelt. Seine Schulzeit verbrachte er in Rudolstadt, wo er auch heute noch lebt. Nach dem Verlassen der Schule im Jahr 1957 arbeitete er als Handwerker und qualifizierte sich über die Volkshochschule für ein Studium, das er 1976 als Ingenieur für Heizung-, Lüftung- und Sanitärtechnik abschloss. Bis 1989 war er als Abteilungsleiter im VEB Chemiefaserkombinat Schwarza beschäftigt.

Brigitte M. wurde 1944 in Peterwitz, einer Stadt im Südwesten des heutigen Polens, geboren. 1945  musste sie mit ihrer Familie nach Bayern/Hessen umsiedeln. Für einige ihrer Verwandten endete die Reise dort. Sie zog mit ihrer Mutter und ihren Schwestern weiter ins thüringische Tüttleben. Dort wurde sie 1950 eingeschult. Nach der Schule absolvierte sie eine Ausbildung zur Möbeltischlerin im nahegelegenen Gotha. In ihrem Betrieb war sie später Vertrauensfrau.

Michael B. wurde 1960 in Potsdam geboren und schloss seine Schulbildung 1980 mit der Fachhochschulreife ab. Nach dem Grundwehrdienst in der NVA begann er zunächst ein Studium der Mathematik und Physik in Potsdam, welches er jedoch abbrach. 1988 schloss er ein zweites Studium zum Ingenieur für Bauwesen ab und begann seine Karriere als Ingenieur für Versorgungstechnik in Berlin.

Simone B. wurde 1966 in Rudolstadt/Thüringen geboren. Nach der Schulausbildung schloss sie eine Ausbildung zur Maschinenbauzeichnerin ab, bevor sie zum Studium nach Erfurt zog. Diese schloss sie 1988 ab und zog anschließend nach Berlin.

Steffen M. wurde 1970 in Gotha geboren. Dort absolvierte er nach dem Besuch der POS Karl Marx eine Lehre zum Schlosser. Von 1990 bis 1993 lebte er zeitweise in den alten Bundesländern, um dort Nutzen von den besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu machen.

Sylvia B. wurde 1969 im thüringischen Gotha geboren, wo sie auch die Schule besuchte. Nach der Schule absolvierte sie eine Lehre zur Gastronomiefacharbeiterin.

Transatlantischer Dialog im Alltag

Wir betrachteten die Beziehung der DDR und Amerika aus verschiedensten Perspektiven. Zentral für unsere Gespräche waren jedoch nicht die politischen Beziehungen, sondern wie sich ein transatlantischer Dialog im Alltag der Menschen abgezeichnet hat. Dort gab es eine größere Vielfalt deutsch-amerikanischen Austauschs, als oft angenommen wird. 

Der DJ musste der Auflage folgen und neben Frankie Goes to Hollywood, Depeche Mode oder The Cure auch Karat und City spielen - wozu natürlich niemand getanzt hat.
— Sylvia B.

Musik und Kunst

Eindrücklich zeigte den transatlantischen Dialog im Alltag unser Gespräch mit Dr. Leonard Schmieding über HipHop in der DDR. Anders als Westdeutschland, wo der HipHop Anfang der 80er Jahre vor allem durch die US-Garnisonen unter die Bevölkerung kam, gab es in der DDR keinen direkten Kontakt mit US-AmerikanerInnen. Die SED sah jedoch im Film Beat Street eine Chance, den HipHop für sich einzunehmen und zeigte den US-amerikanischen Film in den Kinos der DDR. Denn HipHop, so glaubte die DDR-Führung, zeigte vor allem Probleme wie Rassismus und Armut in den USA auf. Die Rechnung ging nicht auf und HipHop wurde von einer desillusionierten Jugend in der DDR zum Phänomen. Für sie waren Städte wie New York Orte der Freiheit und Amerika ein Ort der Sehnsucht. 

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HipHop war nicht das einzige Genre, das Sehnsüchte in DDR-BürgerInnen weckte. So erinnern sich Sylvia B. und Steffen M. an Discobesuche, bei denen die DJs und DJanes verpflichtet waren, mindestens 50% Musik aus dem Osten zu spielen. Die Erfüllung dieser Auflage wurde überwacht. Der DJ musste also “neben Frankie Goes to Hollywood, Depeche Mode oder The Cure auch Karat und City spielen – wozu natürlich niemand getanzt hat,” berichtet Sylvia B. 

Simone B. verwies auch auf Schallplatten. Sie besaß beispielsweise eine Michael Jackson Schallplatte aus Prag, aber auch in der DDR konnte man sogenannte Langspieler von westlichen MusikerInnen mancherorts erwerben, “wenn man das nötige Kleingeld, Glück und Zeit hatte”, so Steffen M. 

Ähnlich war es auch mit der Kunst in der DDR. In unserem Gespräch mit Franziska König Paratore lernten wir, dass die Kunst nicht, wie oft dargestellt, ausschließlich staatskonform malte. Sie war stets im Dialog mit den Kunstszenen aus der ganzen Welt. Selbst die als dekadent betrachtete Pop-Art Kunst aus den USA wurde Mitte der 80er Jahre in der DDR ausgestellt und hat durchaus KünstlerInnen in der DDR beeinflusst. Heute gibt es in den USA eine wachsende Faszination mit Kunst aus der DDR und den neuen Bundesländern. Bilder aus der Leipziger Schule werden regelmäßig zu hohen Preisen in den USA gehandelt.

Wasja Götze: Die reizende Mauer

Wasja Götze: Die reizende Mauer

Das US-Militär als Brückenbauer

Mit Bernd von Kostka vom Alliiertenmuseum Berlin unterhielten wir uns über die Rolle des US-Militärs im geteilten Deutschland. Zum einen ist hier die Luftbrücke hervorzuheben, die Westberlin während der Blockade durch die Sowjetunion mit Gütern versorgte. Die sogenannten “Rosinenbomber,” wie sie auch Brigitte M. geläufig sind, lieferten neben Lebensmitteln auch Kohle nach West-Berlin. “Menschen brauchen Lebensmittel um zu überleben; eine Stadt braucht Energie zum überleben,” so v. Kostka. 

Eine andere Form der Luftbrücke war die sogenannte Kinderluftbrücke. Zwischen 1953 und 1957 wurden mit ihr etwa 10.000 Kinder aus West-Berlin in die BRD geflogen. Flugzeuge der US-Armee transportierten überwiegend Kinder geflüchteter Familien aus der DDR in den Sommerferien für drei bis fünf Wochen in den Urlaub zu westdeutschen Gastfamilien. 

Geflüchtete Kinder machen sich für ihre Reise von Tempelhof nach West-Deutschland bereit. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F002764-0011 / Brodde / CC-BY-SA)

Geflüchtete Kinder machen sich für ihre Reise von Tempelhof nach West-Deutschland bereit. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F002764-0011 / Brodde / CC-BY-SA)

Das US-Militär brachte 1945 auch das American Forces Network (AFN) mit nach Deutschland. Primär diente das Rundfunknetzwerk zur Unterhaltung der stationierten Truppen, um sie durch Musik und andere Inhalte mit ihrer Heimat zu verbinden. Aber auch viele Deutsche empfingen den Sender auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs, wodurch diese Teile der Zivilgesellschaft mit amerikanischer Popkultur und Lebensstil vertraut und versorgt wurden. Der Sender nahm damit auch die Rolle eines Kulturbotschafters ein. Michael B. habe selbst AFN gehört und sich mit amerikanischer Kultur, Musik, und Nachrichten umgeben. Allgemein spielte Hörfunk aus dem Westen eine wichtige Rolle für BürgerInnen der DDR. Simone B. wurde mit westlichen Künstlerinnen und Künstlern wie Michael Jackson und den Beatles durch Radio Luxembourg vertraut, Ralf G. mit Elvis Presley und Bill Haley.

Auch Fernsehen war, soweit man über Zugang zu einem Gerät verfügte, ein gespaltenes Medium. Ralf G. erinnert sich, wie die SED den Rundfunk benutzte, um beispielsweise die USA in Bezug auf den Koreakrieg, den Vietnamkrieg, oder die Unterdrückung der Civil Rights Movement zu kritisieren und die eigene Ideologie zu verbreiten. Viele seien darauf hereingefallen und hätten sich aufgrund der antiamerikanischen Propaganda der SED und NVA angeschlossen, so Ralf G. Auf der anderen Seite konnte man sich, wenn man im Sendegebiet lag, in der Tagesschau informieren. Auch Unterhaltung bot das westdeutsche Fernsehprogramm. Sylvia M. habe mit einer “extra Antenne” ihre Lieblingsmusiksendungen Formel 1 und die Hitparade verfolgen können.

Die Amerikaner waren die ersten hier in Thüringen.
— Ralf G.

Politik

Mit Dr. Stefan Wolle sprachen wir über die 68er-Generation in der DDR. Dr. Wolle, selbst Zeitzeuge der 68er in der DDR, erklärte, wie eine Generation rebellierte, die nicht mehr direkt von der Nachkriegszeit geprägt war. Wir erfuhren, wie sich der Widerstand langsam manifestierte und wegen der staatlichen Überwachung Diskurse nur privat im kleinen Kreis stattfinden konnten. 

Wir sprachen mit Dr. Wolle ebenfalls über den Blick aus der DDR auf die Geschehnisse in Westdeutschland und in den USA, sowie den Einfluss des Prager Frühlings auf die 68er Generation in der DDR. Amerika war stets präsent in der 68er Generation der DDR; für sie waren die USA zugleich Bezugspunkt, solidarisch mit der Civil Rights Movement und den Studentenunruhen, und Feindbild, kritisch gegenüber dem Vietnam-Krieg und Kapitalismus. 

So erinnert sich auch Michael B. Die USA wurden als Aggressor im Kalten Krieg und imperiale Weltmacht dargestellt und wahrgenommen. Daraus folgte auch für ihn eine ideologische Verbundenheit mit den Unterdrückten KommunistInnen und der afrikanischen Diaspora in der amerikanischen Gesellschaft. Sein Bericht, von der als kriegslüstern gezeichneten USA deckt sich auch mit der Wahrnehmung von Sylvia B. Zum einen in Bezug auf den Vietnamkrieg, aber auch eine Angst vor den Waffen und einem möglichen Angriff der USA auf die DDR und verbrüderte Staaten wurde systematisch geschürt. Der Sowjet-Union, stilisiert zum “kommunistischen Bruder,” wurde die Befreierrolle der DDR vom Faschismus angedichtet, obwohl auch amerikanische Truppen Teile des späteren Staatsgebiets befreiten. Dessen war man sich bewusst, berichten auch Ralf G. und Brigitte M.. Thüringen, so machte es den Anschein, sei für Westberlin weggegeben worden und “aus den ehemaligen Verbündeten wurden plötzlich politische Gegner.” Diese politischen Gegner wurden als “böse Kapitalisten und Imperialisten” gezeichnet.

Eigentlich hatten wir in der DDR zwei Gesichter: das eine war das private Gesicht und das andere war das nach außen getragene Gesicht.
— Ralf G.

Von der DDR nach Amerika

Wir sprachen ebenfalls mit der Autorin Susanne Schädlich. Sie ist die Tochter des DDR-Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, der nach dem Biermann Skandal im Jahr 1977 mit seiner Familie aus der DDR ausgewiesen wurde. Weder vollständig angekommen in Hamburg noch West-Berlin, folgte sie später ihrem Verlangen ihren eigenen Weg zu gehen, der sie 1987 nach Amerika führte. Die Vereinigten Staaten wurden Susanne Schädlichs persönliches Land der Freiheit, in welchem es nicht von Bedeutung war, ob sie aus der BRD oder DDR stammte. 

Auch Michael B. stellte sich die USA als ein grenzenloses Land der Freiheit vor, was für seine BewohnerInnen alle Möglichkeiten bereit hielt. Er erinnert sich aber auch, dass im ideologisch motivierten DDR-Rundfunk Probleme wie die Unterdrückung der Schwarzen Bevölkerung oder der Native Americans abgebildet wurden.

Im Gespräch mit Dr. Robert Zwarg blickten wir wieder in die USA und diskutierten, wie die Literatur der DDR in den USA gelesen und rezipiert wurde. Eine Gruppe Germanisten in Madison, Wisconsin, gründete das Journal New German Critique, das es sich zu einem zentralen Anliegen machte, die Literatur aus der DDR in die USA zu bringen. Dort wurde eine eigene Art der Ostalgie betrieben, indem DDR-Literatur zur Projektionsfläche für die eigene Gesellschaft in den USA wurde. Texte aus der DDR wurden vor allem deshalb gelesen, um über die eigene Politik zu diskutieren. Deshalb war der Mauerfall für die New German Critique auch ein einschneidendes Erlebnis, das sie zur Selbstreflexion über die eigene verkürzte Lesart der Literatur aus der DDR bewegte.

Doch auch auf anderem Wege kam die DDR in die USA. Jack Barsky, als Albrecht Dittrich geboren und in Sachsen aufgewachsen, wurde als Student in Jena vom KGB angeheuert und anschließend als Spion in New York City ausgebildet. Nach vielen Jahren in den USA entschied sich Mr. Barsky aus persönlichen Gründen, dem KGB den Rücken zu kehren und in den USA zu bleiben. Er behielt seinen amerikanischen Namen, ist seit vier Jahren amerikanischer Staatsbürger und lebt in der Nähe von Atlanta.

Was bleibt

Wie die DDR heute noch in die neuen Bundesländer nachwirkt, erfuhren wir in unserem Gespräch über die Ostalgie, dem nostalgischen Rückblick auf die DDR. Prof. Jonathan Bach von der New School in New York City diskutierte die Ostalgie vor allem anhand von sogenannten Ost-Produkten in seinem Buch Die Spuren der DDR. Es erzählt von einer Generation, die mit dem Mauerfall zwar Freiheit und größere Selbstbestimmung erhielt, jedoch aus ihrem vertrauten Alltag gerissen wurde. Die Ostalgie habe jedoch nicht direkt mit der DDR zu tun. Sie sei vielmehr ein Zurückerinnern an ein Leben in der DDR, das es so nie gegeben habe. Auch in den USA gibt es Momente der Ostalgie, wie das Wende Museum in Los Angeles oder das Zigarrenpäckchen der Marke “Sprachlos” in Jonathan Bachs Bücherschrank bezeugen.

Wende Museum Los Angeles / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

Wende Museum Los Angeles / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

Ostalgie verspüren auch manche Menschen aus der sogenannten Nachwendegeneration, die nie in der DDR gelebt haben, wie wir in unserer Online-Lesung mit Johannes Nichelmann erfuhren. Geboren in der DDR und aufgewachsen im vereinigten Deutschland, war Johannes Nichelmann oft selbst konfrontiert mit einer Vergangenheit, die verschwiegen, heroisiert oder von außen konstruiert wurde. Er sprach mit uns unter anderem über die emotionale Recherche nach unterdrückten Erinnerungen in seiner eigenen und fremden Familien, das starke Gefühl einer Binnensolidarität gegenüber einer fremd auferlegten ostdeutschen Identität, und las für uns einige Stellen aus seinem Buch Nachwendekinder.

Die Gespräche mit den ZeitzeugInnen haben uns bestätigt, was wir in unseren Live-Events gelernt haben: Amerika war in der DDR nie nur Klassenfeind oder Ort der Sehnsucht. Diese Spannung hat ein Nachleben in den neuen Bundesländern. Es ist nun wichtig, weiterhin den Dialog zu suchen und die historischen Gründe für komplexe Sichtweisen auf Amerika zu verstehen und sie zu hinterfragen.

Alle Gespräche finden Sie zum nachhören unter www.dai-sachsen.de/digital.

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